Bitterstoffe bezeichnet keine Stoffklasse, sondern sie sind ein Sammelbegriff für unterschiedliche Stoffe mit bitterem Geschmack, beziehungsweise für Stoffe, die in der Lage sind, TAS2R-Rezeptoren (Bitterrezeptoren) zu aktivieren. In der Datenbank für bittere Substanzen (BitterDB) sind aktuell 1041 Bitterstoffe gelistet [Dagan-Wiener et al., 2019]. Pflanzliche Bitterstoffe gehören in den meisten Fällen den Alkaloiden, Isoprenoiden und verschiedenen Glykosiden an. Darüber hinaus gibt es aber auch Vertreter anderer Substanzklassen wie beispielsweise bittere Zucker, Aminosäuren und Peptide [Wölfle & Schempp, 2018; Hiller & Melzig, 1999]. Bittere Auszüge aus Pflanzen nennt man Bitterstoffdrogen, und sie werden in der Pflanzenheilkunde abhängig von den vorherrschenden organoleptischen Qualitäten in 5 Klassen unterteilt: Amara pura (reine Bitterstoffe), Amara aromatica (Bitterstoffe und ätherische Öle), Amara mucilaginosa (Bitterstoffe und Schleimstoffe), Amara acria (Bitterstoffe und Scharfstoffe) sowie Amara adstringentia (Bitterstoffe und Gerbstoffe) [Wölfle & Schempp, 2018]. Die Bitterkeit eines Bitterstoffs oder einer Bitterstoffdroge wird mittels des Bitterwerts angegeben (Kehrwert der Verdünnung, die noch als bitter wahrnehmbar ist). Als bitterste natürliche Substanz gilt Amarogentin, die man in Enzian und Kalmegh (Andrographis paniculata) findet. Sie hat einen Bitterwert von 58.000.000 – d. h. 1 g Amarogentin ist noch in 58.000 l Wasser wahrnehmbar. Die physiologische Wirkung von Bitterstoffen lässt sich einmal in die reflexartige Reaktion durch die geschmackliche Wahrnehmung im Mundraum (gustatorischer Bitterreflex) und in die rezeptorvermittelte Wirkung durch Bitterrezeptoren außerhalb des Mundraums unterteilen. Die reflexartige Wirkung der Bitterstoffe umfasst die Vagusnerv-vermittelte Stimulation der Speichel- und Magensaftproduktion sowie die Bildung des Peptidhormons Gastrin, was wiederum die Peristaltik in Magen und Darm und die Pankreas-Sekretion anregt. Bitterstoffe wirken über diesen Mechanismus verdauungsfördernd [Hiller & Melzig, 1999; Rezaie et al., 2021].
Mittlerweile ist bekannt, dass im Menschen insgesamt 25 verschiedene Subtypen von Bitterstoffrezeptoren (TAS2Rs) vorkommen. Viele davon vermitteln in Geweben außerhalb des Mundraums wichtige physiologische Funktionen. So findet man Bitterrezeptoren auf Zellen des Magen-Darm-Trakts, der Bronchien, der Haut und der Blutgefäße sowie auf Zellen des Herzens, des Gehirns und zahlreichen Immunzellen [Tuzim et al., 2021; Wölfle & Schempp, 2018]. Im letzten Jahrzehnt wurden in vitro und in vivo zahlreiche Bitterrezeptor-vermittelte Effekte und Funktionen identifiziert. So führt die Aktivierung von Bitterrezeptoren im Magen-Darm-Trakt zu endokrinen Effekten. Sie stimulieren beispielsweise die Freisetzung von zahlreichen Peptidhormonen wie GLP-1, Ghrelin, CCK, PYY und können so zur Blutzuckerkontrolle und Appetitregulation beitragen. U. a. wird daher das Potential von Bitterstoffen bei Diabetes diskutiert [Tuzim et al., 2021; Chou, 2021; Rezaie et al., 2021]. Darüber hinaus wurden immunmodulierende Effekte im Darm und der Lunge beobachtet. Die Aktivierung von Bitterrezeptoren im Darm führt zur Produktion von antimikrobiellen Peptiden wie Defensinen oder Mucinen und stimuliert die Aktivität bestimmter Immunzellen (Neutrophile & Makrophagen). Bitterstoffe aktivieren also Mechanismen des angeborenen Immunsystems zur Abwehr von Pathogenen. Auch auf Immunzellen des adaptiven Immunsystems wurden Bitterrezeptoren gefunden, deren Funktion aber noch aufgeklärt werden muss. Neben den stimulierenden Effekten auf die Pathogenabwehr sind aber auch immunsuppressive Effekte bekannt. So wurden eine antiinflammatorische Wirkung bestimmter Bitterstoffe beschrieben, die auf der Modulation der Zytokinproduktion in Immunzellen basiert [Tuzim et al., 2021; Liszt et al., 2022]. Ein weiterer Anwendungsbereich von Bitterstoffen ist die Kosmetik, denn die Aktivierung von Bitterrezeptoren kann regenerierend wirken und die Hautbarriere stärken (unter anderem regen sie die Ceramidproduktion an) [Wölfle & Schempp, 2018].